Tilly Spiegel. Eine politische Biografie

Projektskizze

Im Gedenkjahr 2018 stehen vor allem historische Meilensteine wie die Gründung der Ersten Republik oder der „Anschluss“ im Blickpunkt. Dennoch sollte es gerade auch ein Anliegen der kritischen Geschichtswissenschaften sein, bisher wenig oder gar nicht erforschte Ereignisse, Personen oder Prozesse in den Vordergrund zu stellen. Die wissenschaftliche Biografieforschung hat in den letzten Jahren auch in Österreich an Bedeutung gewonnen – wie etwa Studien über Bruno Kreisky, Christian Broda, Hans Sima oder Engelbert Dollfuß belegen. Weitaus seltener geraten diejenigen Personen in den Fokus, die zwar in der „zweiten Reihe“ standen, das politische Leben Österreichs jedoch im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Einflussgebietes ebenso mitgeprägt haben – Studien über Herbert Steiner oder Franz Marek fallen in diese Kategorie.

Wissenschaftliche Biografien über politisch aktive Frauen stellen nach wie vor ein Desiderat dar. Vor allem aufgrund der Konzentration auf die vorderste Ebene der Politik – Minister, Kanzler, Landeshauptmänner, Bundespräsidenten – ergibt sich eine Leerstelle, die in keinem Verhältnis zum tatsächlichen politischen Engagement von österreichischen Aktivistinnen, Politikerinnen, Gewerkschafterinnen, Widerstandskämpferinnen usw. in den letzten 100 Jahren steht. Die Erforschung von politischen Handlungsmöglichkeiten und Betätigungsfeldern von Menschen, besonders von Frauen, die bisher nicht im Mittelpunkt der journalistischen und historiografischen Auseinandersetzung standen, kann ein weiterer kritischer und emanzipativer Beitrag zum Gedenkjahr 2018 sein; diese bisherige Lücke ist grundsätzlich als lohnendes Forschungsfeld, auch über das Jahr 2018 hinausgehend, hervorzuheben.

Diese Skizze schlägt eine politische Biografie über Ottilie „Tilly“ Spiegel vor, deren Biografie auf das Engste mit dem zentralen Bezugspunkt 1938 (und mit den politischen Umbrüchen des Jahres 1968) verbunden ist: Die aus einer jüdischen Familie stammende Spiegel engagierte sich nach 1938 als überzeugte Österreicherin in der Résistance in Frankreich, überlebte die NS-Verfolgung knapp und kehrte in der Folge nach Österreich zurück. Dort betätigte sie sich in der KPÖ, doch die sowjetische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ des Jahres 1968 führte bei ihr zu einem Bruch mit der Partei, die ihr bis zu diesem Zeitpunkt Heimat war.

Ottilie Spiegel wurde als Tochter jüdischer Eltern in der Bukowina geboren. Ihre Eltern wurden vom NS-Regime im Ghetto Izbica ermordet. Spiegel absolvierte Matura und Studium in Wien. Ab 1927 war sie Gewerkschaftsmitglied, 1930 schloss sie sich der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) an und wurde rasch Funktionärin in der Bezirks- und in der Wiener Stadtleitung. Im Februar 1935 wurde sie verhaftet und im November desselben Jahres zu 18 Monaten schweren Kerkers verurteilt. Im Herbst 1937 ging Spiegel in die Schweiz und organisierte dort den Grenzübertritt von Spanienkämpfern aus Österreich nach Spanien. Wegen dieser illegalen Tätigkeit wurde sie von den Schweizer Behörden im Dezember 1937 verhaftet, verurteilt und schließlich im Mai 1938 ausgewiesen. Daraufhin emigrierte sie nach Paris. Im November 1938 gründete sie den Cercle Culturel Autrichien mit und engagierte sich in der Flüchtlingshilfe. Sie gehörte während dieser Exiljahre der Résistance an und war in einer führenden Rolle im Travail allemand involviert.

Nach der NS-Zeit kehrte Spiegel nach Wien zurück, übernahm Aufgaben in der Wiener Stadtleitung der KPÖ und beteiligte sich an der Aufbauarbeit des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Spiegel befasste sich in zwei Publikationen mit Frauen und Mädchen im Widerstand. Wie viele andere auch, brach sie 1968 mit der KPÖ. Ihre Ehe mit dem kommunistischen Intellektuellen Franz Marek wurde 1974 geschieden. Spiegel wurde mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet.

Frauengeschichte und Republiksgeschichte sind in diesen kursorischen Eckdaten aufs Engste miteinander verwoben, wobei die Auseinandersetzung mit Widerstand und Verfolgung durch das NS-Regime als Hauptfokus zu benennen ist. Eine genaue biografische Untersuchung ihrer Vita ermöglicht über die bloße Würdigung Spiegels die Auseinandersetzung mit wichtigen Themen der Geschichte der Ersten und Zweiten Republik und die Beschreibung zentraler historischer und gesellschaftspolitischer Felder. Zu nennen sind hier u. a.: Parteiengeschichte der Ersten Republik (mit Fokus auf die KPÖ), Bürgerkrieg 1934, Dollfuß-Schuschnigg-Regime, Widerstand gegen das NS-Regime (v.a. im Rahmen der französischen Résistance), Verfolgung jüdischer ÖsterreicherInnen in der NS-Zeit, (politischer) Wiederaufbau nach 1945, innen- und außenpolitische Konsequenzen der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ usw.

Einen klaren Schwerpunkt stellt aber die Zeit in der Résistance dar: Hierzu werden neben Spiegels eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Widerstand gegen das NS-Regime Archivmaterialien und Zeitzeugenberichte herangezogen. Ihre Tätigkeit als führende Widerstandskämpferin in Frankreich muss insbesondere in die gegenwärtigen Forschungsdiskurse eingebettet und gewichtet werden, generell ist eine genaue Auseinandersetzung mit dem Travail allemand, dem spezifischen Widerstand der deutschsprachigen KommunistInnen in Frankreich, bisher eine Forschungslücke. In den Jahren nach 1945 geht es vor allem um Spiegels politische Tätigkeit in der KPÖ, zunächst als linientreue Parteigängerin, später als Kritikerin bis zu ihrem Bruch mit der Partei im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Einschätzung der sowjetischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“.

Die Biografie Spiegels stellt einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des österreichischen Widerstands, des kommunistischen Widerstands in Frankreich und zur unabhängigen Erforschung der Geschichte der KPÖ dar. Die Kontextualisierung der Tätigkeiten Tilly Spiegels im Widerstand gegen das Dollfuß-Schuschnigg-Regime und innerhalb der Résistance in Frankreich eröffnet neue Perspektiven bei der Erforschung des Widerstands. Die perspektivierte Biografie wird Erkenntnisse zur Involvierung und zur Tätigkeit österreichischer KommunistInnen liefern, von denen nicht wenige als Juden und Jüdinnen doppelt verfolgt waren. Die Biografie Tilly Spiegels hat das Potential, der Erforschung der deutschen und österreichischen Beteiligung an der Résistance neue Impulse zu verleihen und die wechselseitige Vereinnahmung des jeweiligen Anteils zu überwinden, zumindest aber kritisch zu hinterfragen und die bisher separaten, aus nationalen Ansätzen resultierenden Forschungsergebnisse zusammenzuführen.

Projektleitung: Mag. Dr. Ina Markova

Förderer: Bundeskanzleramt der Republik Österreich, Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, Zukunftsfonds der Republik Österreich, Stadt Wien (MA 7)     

Dauer (geplant): November 2018 bis Oktober 2019